Handschriften
Das Herzstück der Stiftsbibliothek St.Gallen bildet der einzigartige Bestand an Handschriften. Nicht nur ihre Zahl ist beeindruckend, sondern vor allem die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Sammlung. So lässt sich aus heutiger Sicht das geistige und kulturelle Leben des Klosters vom Frühmittelalter bis 1805 (Aufhebung der Abtei) rekonstruieren. Wichtige ergänzende Hinweise geben die ebenfalls in einzigartiger Vollständigkeit erhaltenen Urkunden und Verwaltungsdokumente des Stiftsarchivs.
Erste Spuren einer eigenen St.Galler Handschriftenproduktion finden sich ab der Mitte des 8. Jahrhunderts, in der Zeit des Gründerabts Otmar und seines Nachfolgers Johannes (719–759 bzw. 759–782). Vom 8. bis zum 11. Jahrhundert gehörte die Benediktinerabtei St.Gallen zu den wichtigsten kulturellen Zentren Europas. Schöpferische Mönche – Buchmaler wie Wolfcoz und Folchart, Dichter, Gelehrte und Künstler wie Notker der Stammler, Tuotilo oder Notker der Deutsche – gingen in die europäische Kulturgeschichte ein.
Der Handschriftenbestand ist der Forschung zugänglich, ein Teil davon wird in jährlichen Ausstellungen, unter einem thematischen Schwerpunkt dem interessierten Publikum im Barocksaal präsentiert.
Die gut 2100 Handschriften sind thematisch in Gruppen geordnet. Die fortlaufenden Signaturen fassen nach diesem Prinzip die Bücher zusammen. Die Schwäche dieses Systems wird an den in jüngerer Zeit hinzugekommenen Handschriften ab Signatur Codex 1094 offensichtlich, indem diese nicht mehr thematisch geordnet «zwischen» die älteren Bestände eingegliedert werden können.
Handschriften Nr.
1 – 84 Bibelhandschriften
85 – 337 Kirchenväter und Kirchenschriftsteller
337b – 546 Liturgische Handschriften und Andachtsbücher
547 – 669 Heiligenleben, Profangeschichte, Geographie
670 – 749 Kanonisches, römisches und germanisches Recht
750 – 762 Medizin
763 – 815 Dogmatische und aszetische Literatur
816 – 849 Philosophie und Mathematik
850 – 913 Römische Klassiker, Scholiasten und Grammatiker, lateinische und deutsche Wörterbücher und Literatur
914 – 925 Ordensregeln
936 – 1014 Aszetik
1015 – 1081 Predigten, Erbauungsliteratur
1082 – 1093 «Altertümer», Wappenbücher
1094 – 1725 ohne inhaltliche Ordnung, Bücher des 15.–18. Jahrhunderts
1716 – 1984 Supplementbestand; Erwerbungen 1875–1980
1985 – 2092 hauptsächlich Gebets- und Andachtsliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts
2093 – 2112 Diverse; Neuerwerbungen und Schenkungen
Handschriften aus Zürich
Seit 2006 verwahrt die Stiftsbibliothek ausserdem vierzig Handschriften aus dem sogenannten Kulturgüterstreit mit Zürich, deren Leihbedingungen in einer gemeinsamen Vereinbarung geregelt wurden. Diese sind digitalisiert und online einsehbar. Es handelt sich um folgende Handschriften:
a) Mittelalterliche Handschriften
Ms. A 135 Sammelhandschrift des St.Galler Mönchs P. Gall Kemli mit seinem Bücherkatalog, 15. Jhd.
Ms. A 152 Kuchimeister, Chronik Kloster St.Gallen, 15. Jhd.
Ms. C 10i Passionarius maior (Heiligenleben), 9./10. Jhd.
Ms. C 12 Sog. «Zürcher Psalter», 820/30
Ms. C 43 Sacramentarium triplex, 920/30
Ms. C 60 Lektionar aus dem Kloster St.Gallen 900/910
Ms. C 62 Sammelband mit u.a. Thebaïs des Statius, 10.–12. Jhd.
Ms. C 74a Quintillian, Institutio retorica, 10./11. Jhd.
Ms. C 77 (Lektionar Comitis) Epistel und Evangelien, 900/910
Ms. C 78 Sammelhandschrift 9.–15. Jhd. aus dem Kloster St.Gallen,
mit u.a. Alkuin-Texten, dem Aachener Karlsepos, dem Carmina Sangallensia
Ms. C 80 Sammelhandschrift mit u.a. Alkuin-Texten, kanonistischen Texten, 9.–13. Jhd.
Ms. C 98 Notker der Deutsche, althochdeutscher Rhetorik- und Dialekt-Traktat, 11. Jhd.
Ms. C 100 Walther von Châtillon, Alexandreis, 14. Jhd.
Ms. 101 Sammelhandschrift des St.Galler Mönchs P. Gall Kemli 15. Jhd.
Ms. 121 Sammelband mit Texten des Isidor von Sevilla, von Beda Venerabilis und Notker dem Deutschen, 11. Jhd.
Ms. C 129 Sammelband mit u.a. Liber hermeneumatum, 9. Jhd.
Ms. C 150 Sammelband des St.Galler Mönchs P. Gall Kemli, 15. Jhd.
b) Frühneuzeitliche Handschriften
Ms. B 73 Ausgabenbuch des St.Galler Abtes Otmar Kunz (1564–1577), 16. Jhd.
Ms. B 96 Glaubenslehren aus der Vita des Gallus, 17. Jhd.
Ms. B 115 Übersetzung von zwei französischen Texten Mabillons durch P. Hermann Schenk ins Lateinische, um 1700
Ms. B 118 Konvertitenliste der Fürstabtei St.Gallen 1640–1697
Ms. B 124 P. Chrysostomus Stipplin, Ius canonicum, 17. Jhd.
Ms. B 131 Ausgaben-Buch 1706 eines fürstäbtisch-sanktgallischen Beamten
Ms. B 134 Wunder am Altar «Maria im Gatter» 1470–1520, Abschrift von 1608
Ms. C 106 Vorlesungen Vadians, geschrieben durch den St.Galler Münsterorganisten Fridolin Sicher 1523/24
Ms. D 74 Ermahnungen an die Fratres juniores im Kloster St.Gallen, 1633
Ms. D 76 Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. Carmina
Ms. D 76a Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. De studiis
Ms. D 76b Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. Affixiones
Ms. D 76c Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. De studiis
Ms. D 77 Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. Versus heroici
Ms. D 77b Handschrift der Sammlung P. Ulrich Aichhaim, um 1670. Carmina
Ms. D 147 Lateinische Redeübungen von St.Galler Novizen, 1660/61
Ms. D 155 Lateinische Predigten eines St.Galler Mönchs 1674–1691
Ms. D 199 Lateinische Gedichte für den Augsburger Bischof Marquard
von Berg, verfasst an der Universität Dillingen von St.Galler Mönchen
1577
Ms. D 217 Festschrift aus dem Kloster St.Gallen: Übersetzung des Marienpsalters ins Griechische, 1661
Ms. D 219 P. Chrysostomus Stipplin, Gedichte auf die Heiligen jeden Tages, ca. 1630
Ms. D 221 Lateinische Gedichte des St.Galler Mönchs Athanasius Gugger, um 1654
Ms. D 227 P. Gallus Schindler, Mönch des Klosters St.Gallen: Übersetzung der Regula Benedicti ins Griechische, um 1670
Kartensammlung Karte der Fürstabtei St.Gallen um 1700 mit Aufschrift «Ex Bibliotheca Abb. S. Galli»
Kulturgüterstreit zwischen St.Gallen und Zürich
Die Beilegung des so genannten Kulturgüterstreits mit Zürich vom Jahr 2006 beinhaltet zusammenfassend folgende Punkte:
St.Gallen anerkennt, dass Zürich an sämtlichen Kulturgütern, die auf Grund der Ereignisse von 1712 im Besitz zürcherischer Institutionen und des Schweizerischen Landesmuseums sind, unabhängig von den Umständen des Erwerbs volles Eigentum und sämtliche daraus fliessenden Rechte erworben hat. Zürich anerkennt die Identitätsrelevanz der in der St.Galler Klosterbibliothek seit dem frühen Mittelalter entstandenen und gesammelten vorab einheimischen Zeugnisse der Schreib-, Mal- sowie Buchkunst und Wissenschaft für St.Gallen und den Bodenseeraum. St.Gallen anerkennt, dass die Kulturgüter in den fast 300 Jahren ihres Verbleibs in Zürich zur kulturellen Identität der Zentralbibliothek beigetragen haben und dort gut konserviert, gepflegt und erschlossen worden sind. Zürich erstellt für die Stiftsbibliothek St.Gallen eine originalgetreue Replik des der Stiftung Zentralbibliothek Zürich gehörenden, im Landesmuseum befindlichen Erd- und Himmelsglobus. Der Kanton Zürich schenkt St.Gallen die sich im Staatsarchiv Zürich befindliche Vita vetustissima Sancti Galli. Zürich leiht St.Gallen 35 der Stiftung Zentralbibliothek gehörende Kulturgüter auf eine unbestimmte Zeit aus. Eine Auflösung des Leihverhältnisses ist erstmals nach 38 Jahren, also im Jahre 2044, möglich. Die Handschriften sind am 25. September 2006 in St.Gallen eingetroffen. Die Stiftsbibliothek St.Gallen stellt für die Stiftung Zentralbibliothek Zürich von allen ausgeliehenen Handschriften hochwertige digitale Aufnahmen her.
Die
Leihbedingungen wurden in einer gemeinsam ausgearbeiteten Vereinbarung
geregelt. Die Auswahl der längerfristig nach St.Gallen ausgeliehenen
Kulturgüter erfolgte im Rahmen des Leitkriteriums der Identitätsrelevanz für St.Gallen, insbesondere nach den folgenden Gesichtspunkten:
1) eigenständige geistige und künstlerische Leistungen von St.Galler Mönchen aus Mittelalter und früher Neuzeit,
2) liturgische Handschriften mit spezifisch sanktgallischem Heiligenkalender und sanktgallischer Gottesdienstordnung,
3) älteste in St.Gallen geschriebene oder kopierte Texte.